Darmstadt

Matthäuskirche

Anschrift Kirche
Heimstättenweg 77
64295 Darmstadt
  • Informationen
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    Anschrift Pfarramt Evangelische Matthäusgemeinde Darmstadt
    Heimstättenweg 75
    64295 Darmstadt
    06151 307451
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    Kirchen in Deutschlands Mitte

Zehn Eier und ein Eimer Wasser

Da spricht noch die Nachkriegsnot aus der Postkarte, die der Künstler Will Sohl 1952 an den Darmstädter Pfarrer Stenger verfasste: „Ich werde die Malerei in Eitempera ausführen. Dazu brauche ich Eier. Das Ganze ist teurer als ein anderer Binder, aber ich denke mir, dass Sie Hühnerhalter in ihrer Gemeinde haben. Bitte veranlassen Sie, dass am Montag zehn Eier für mich zum Verarbeiten da sind. Bitte außerdem ein paar alte Dosen (sauber) und einen Eimer Wasser.“ Nun, das Verlangte war pünktlich da, und so konnte der Heidelberger Künstler mit seiner Arbeit in der Matthäuskirche beginnen. Damit verwirklichte er den einzigen figürlich ausgemalten Gottesdienstraum im standardisierten evangelischen Notkirchenprogramm Otto Bartnings.

  • Überblick
    Ort
    Darmstadt

    Landeskirche
    Evangelische Kirche in Hessen und Nassau


    Name der Kirche
    Matthäuskirche

    Einweihung
    1950 (19. März)

    Architekt
    Otto Bartning

    Künstler
    Will Sohl
    Besonderheit
    Die Darmstädter Kirche birgt mit dem Matthäuszyklus des Künstlers Will Sohl die einzige figürliche Ausmalung einer Bartning-Notkirche.

    Nutzung
    Gemeindekirche

    Standort / Städtebau
    Die Matthäuskirche befindet sich in der Darmstädter Heimstättensiedlung, die ab 1932 zunächst von Arbeitslosen vornehmlich in Eigenleistung erbaut wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde sie durch Flüchtlinge aus der Bukowina, Ungarn und Rumänien erweitert. Der Kirchenbau weist zum Straubplatz, der sich wiederum zu einer Erschließungsstraße der Siedlung, zum Heimstättenweg, öffnet.

  • Beschreibung

    Grundriss

    Darmstadt | Matthäuskirche | Grundriss

    Darmstadt | Matthäuskirche | Grundriss

    Gemäß „Notkirchentypus B mit polygonalem Altarraum“ läuft ein längsgerichteter Saal mit äußerst knapp bemessenen Wandstützen in voller Breite in einen aus fünf Seiten eines Zwölfecks gebildeten Chorschluss aus. Der Altartisch steht knapp vor dem Scheitel des Polygons. Der Altarraum ist podestartig erhöht, das Podest zum Gemeinderaum per zweiseitiger Chorbrüstung mit mittigem vierstufigem Treppenaufgang abgeschrankt. Die Kanzel wurde in die linksseitige Chorschranke integriert. Zwei axial ausgerichtete Felder mit Mittelgang zeigen die Positionen für die Kirchenbänke an. Der dem Altarraum gegenüberliegende Eingangsbereich stellt einen „abtrennbaren Gemeindesaal mit Orgelempore“ dar. Daran schließen sich links und rechts zwei kurze Flügelbauten sowie rechts zusätzlich der Glockenturm an.

     

    Außenbau

    Darmstadt | Matthäuskirche | Außenbau | Foto: Ev. Dekanat Darmstadt-Stadt

    Darmstadt | Matthäuskirche | Foto: Ev. Dekanat Darmstadt-Stadt

    Die Eingangsseite präsentiert sich als querriegelartiger, weiß verputzter Bau mit steiler gemittelter Giebelfront. Eine schlichte Reihe von Fenstern und Türen sowie ein Rundfenster gliedern die Fassade. Am Kopfende des rechten Riegels steht der kantige, mit sichtbar belassenem Betonrahmenwerk und monumentalem „Beton-Gipfelkreuz“ abgesetzte Glockenturm. Das extrem schlicht gehaltene Kirchenschiff besteht aus einer nun völlig ungegliederten Wand mit schmalem oberen Fensterband sowie unmittelbar darüber liegendem und wie die Schiffwand um den Fünf-Zwölftel-Schluss geführtem Satteldach. Dach und Außenwand stehen der Höhe nach im Verhältnis 1:1.

     

    Innenraum

    Darmstadt | Matthäuskirche | Innenraum | Foto: Ev. Matthäusgemeinde Darmstadt

    Darmstadt | Matthäuskirche | Foto: Ev. Matthäusgemeinde Darmstadt

    Im Unterschied zum nüchtern weiß verputzten Außenbau empfängt den Besucher innen die warme Aura von Holz. Der mit den originalen Falttüren abtrennbare Gemeindesaal unter der Orgelempore verspricht geradezu Intimität. Fast das gesamte Interieur der Kirche und auch die konstruktiven Elemente – die den Saal umstehenden und das offene Dach tragenden schmalen Gelenkbinder – bestehen aus Holz. Die Füllmauern wurden mit gegossenen Blocksteinen aus Trümmertrass gebildet. Das den Steinen beigegebene Ziegelmehl gibt ihnen eine die Ausmalung Will Sohls grundierende Tönung.

  • Liturgie und Raum
    Darmstadt | Matthäuskirche | Parament | Foto: Ev. Matthäusgemeinde Darmstadt

    Darmstadt | Matthäuskirche | Parament | Foto: Ev. Matthäusgemeinde Darmstadt

    Kanzel und Altar sind hinter der ebenfalls aus Trümmertrass-Steinen gebildeten Chorschranke vom Gemeinderaum deutlich separiert. Die Anordnung des axial an den Raumschluss gesetzten Altars und der seitlich etwas vorgezogenen Kanzel entsprechen den ein Jahr (1951) nach Indienstnahme der Kirche verfassten „Rummelsberger Grundsätze(n) für die Gestaltung des gottesdienstlichen Raumes“ der evangelischen Landeskirchen in Deutschland. Die Grundrissgestalt hatte Architekt Otto Bartning prototypisch bereits 1928 mit der sog. Pressa- oder Stahlkirche vorgestellt. Anlässlich einer damals vielbeachteten internationalen Kölner Messe-Schau hatte der Architekt ein Kirchgebäude schaffen sollen, das den Protestantismus in Deutschland angemessen repräsentierte. Bartning erläuterte seinen Entwurf: Auf annähernd parabolischem Grundriss, mit dem liturgischen Zentrum in der Rundung, ergäbe er ein Bild der ausgebreiteten Arme des Liturgen, mit der er die vor ihm versammelten Menschen umfasse. Die solchermaßen Architektur gewordene gegenseitige Hinwendung von Liturg und Gemeinde entspräche letztlich der Auffassung Luthers vom Priestertum aller Gläubigen.

  • Ausstattung

    Darmstadt | Matthäuskirche | Ausmalung | Foto: Ev. Matthäusgemeinde Darmstadt

    Die Ausstattung der Kirche folgt konsequent den vom Architekten vorgesehenen (Holz) und über die Gemeinde zur Verfügung gestellten (Trümmersplit) Materialien. So wurde auch der Unterbau des hölzernen Altartischs aus jenen Trümmerguss-Steinen gemauert. Hinter dem Altar steht ein großes schlichtes Holzkreuz. Es gehört zur Standardausstattung der Bartning’schen Notkirchen. Kirchenbänke und Orgelempore sind standardisiert, 1953 kam die Walcker-Orgel hinzu. Die passend zu den Mauersteinen leicht bunt getönten Fensterscheiben aus Echtantik-Glas wählte Bartning mit aus. Entsprechend dem Notkirchen-Konzept gibt es keinen Taufstein, sondern ein bewegliches Taufgeschirr.

    Die Bemalung der Füllwände von 1953-54 zeigt zu Seiten des Altarraums in je einem Wandfeld die vier Evangelisten. An den weiteren Wänden sind Szenen des Matthäusevangeliums wiedergegeben. Markant ist der Farbauftrag: Will Sohl hatte nicht grundiert; die szenischen Malereien wurden in breiten Umrisslinien ohne deckende Vollausmalung direkt auf die grobkörnige Mauerfläche gelegt. Damit die konträr zur malerischen Anordnung verlaufenden Mauerfugen das Bildganze nicht stören, bediente sich Sohl eines künstlerischen Tricks. Er zeichnete die Fugen verschieden-farbig nach und entwickelte so ein von den Figurenszenen unabhängiges malerisches „Raster“, die gemeinsam mit der rohen Textur der Mauersteine den Fond des Zyklus bilden.

  • Von der Idee zum Bau
    Darmstadt | Matthäuskirche | Aussmalung | Foto: Ev. Matthäusgemeinde Darmstadt

    Darmstadt | Matthäuskirche | Ausmalung | Foto: Ev. Matthäusgemeinde Darmstadt

    Die Matthäuskirche ist Teil eines von Otto Bartning und dem ersten Bundestagspräsidenten und Gründer des Hilfswerks der evangelischen Kirchen in Deutschland, Dr. Eugen Gerstenmeier, im Dezember 1945 projektierten Notkirchenprogramms. Zwischen 1948 und 1951 entstanden in beiden Teilen Deutschlands als Soforthilfe nach dem Krieg 43 der eigentlichen sog. Notkirchen. Dazu gehört auch die Matthäuskirche. Die Heimstättensiedlung, in der sie steht, wurde ab 1932 von Arbeitslosen in Selbsthilfe erbaut. Nach dem Krieg zogen Ungarndeutsche, Buchenländer und Siebenbürger Sachsen hinzu. Die bereits 1935 gegründete Matthäusgemeinde erhielt aber erst mit Grundsteinlegung 1949 und Indienstnahme im Jahre 1950 ein eigenes Kirchgebäude. Die örtliche Bauleitung lag beim Architekten R. Heymann. Kindergarten und Wohnung der Gemeindeschwester fanden zunächst im „Gemeindesaal“ und im Anbau der Kirche Platz. Die Orgel stammt von 1953, der Turm nach anderem Plan von 1959.

  • Der Architekt Otto Bartning
    Darmstadt | Matthäuskirche | Schnitt der Notkirche Typ B mit polygonalem Altarraum

    Darmstadt | Matthäuskirche | Schnitt der Notkirche Typ B mit polygonalem Altarraum

    Otto Bartning (* 1883 Karlsruhe, + Darmstadt 1959) begann 1902/03 ein Studium der Architekturgeschichte an der Königlich Technischen Hochschule in Berlin-Charlottenburg und an der Großherzoglich-Technischen Hochschule in Karlsruhe. 1905 nahm er eine Tätigkeit als freischaffender Architekt auf, plante 1906 seinen ersten Kirchenbau. Ab 1910 engagierte sich Bartning im Deutschen Werkbund und entwickelte im Winter 1918/19 mit Walter Gropius in Berlin „den damals revolutionären Lehrplan einer Vereinigung von freien Künsten, Handwerk und Baukunst auf der Basis der Gesellen- und Meisterlehre, als den Grundplan des ‘Bauhauses'“. 1925 trennten sich die Wege beider Männer.

    Als einflussreicher Kirchenbauer und Architekturtheoretiker hatte Bartning bereits in den 1920er Jahren mit der sog. Sternkirche und mit der Pressa-Kirche zwei überkonfessionell richtungsweisende Modellkirchen entwickelt. Weitere wichtige Kirchenbauten Bartnings, wie die 1928-30 in Essen-Südostviertel erbaute Auferstehungskirche oder die Berliner Gustav-Adolph-Kirche Berlin von 1932-34, sind Fortentwicklungen der zentralisierenden Sternkirche. Der innerhalb des Notkirchenprogramms hauptsächlich realisierte Typ B folgt dem Grundriss der Pressa-Kirche. Die hölzernen Gelenkbinder wurden fertig angeliefert, dann von den Gemeinden in Eigenleistung aufgerichtet und mit verfügbarem Material (Holz, Trümmersteine) individuell ausgefacht. Angesichts der Gelenkbinder, die Ständer und Sparren in einem sind, sprach Bartning ein seltenes Mal metaphorisch über sein Werk: Die vom Boden aufgehende, zueinander geneigte und zum Rund sich schließende Konstruktion sei „Zelt in der Wüste“ – Versammlungsraum innerhalb der Wüstenei der zerstörten Städte sowie Sammlungsraum angesichts der sich verbreitenden inneren Öde.

  • Literatur (Auswahl)
    • Otto Bartning: Die 48 Notkirchen in Deutschland, Heidelberg 1949.
    • Otto Bartning: Ansprache zu Einweihung des Prototyps des Notkirchenbaus in Pforzheim, 1948, in: Ders.: Vom Raum der Kirche, aus Schriften und Reden, ausgewählt und eingeleitet von Alfred Siemon (Baukunst des 20. Jahrhunderts. Quellen und Monographien, Forschungen und Berichte 2), Osnabrück 1958, 99-102.
    • Jürgen Bredow/Helmut Lerch: Materialien zum Werk des Architekten Otto Bartning, Darmstadt 1983, 74-76, 124-130.
    • Evangelische Matthäusgemeinde: 50 Jahre evangelische Matthäuskirche, hg. vom Kirchenvorstand der evangelischen Matthäusgemeinde Darmstadt, Darmstadt 2000.
    • Evangelische Matthäusgemeinde: Die Bilder der Evangelischen Matthäuskirche zu Darmstadt, hg. im Auftrag der Ev. Matthäusgemeinde Darmstadt von Joachim Seipp, Darmstadt 2004.
    • Michael Flock: Der Notkirchenbau von Otto Bartning. Beispielbetrachtungen der Wichernkirche (Heilbronn) und der Lutherkirche (Mainz), Studienarbeit im Fachbereich architektur der srh-Hochschule Heidelberg, Heidelberg 2008.
    • Markus Juraschek-Eckstein: Gebaut fürs Priestertum aller Gläubigen, in: Achera 12 (erscheint im März 2017).
    • Hans K. F. Mayer: Der Baumeister Otto Bartning und die Wiederentdeckung des Raumes, Heidelberg 1951, 32, 72-80.
    • Ulrich Pantle: Leitbild Reduktion. Beiträge zum Kirchenbau in Deutschland von 1945 bis 1950, Regensburg 2005, 218-237.
    • Julia Ricker: Spiritualität in Serie. Otto Bartning und seine Kirchen, in: Monumente 2, 2016, 66-73.
    • Christoph Schneider: Das Notkirchenprogramm von Otto Bartning. Marburg 1997.
    • Svenja Schrickel: Die Notkirchen von Otto Bartning – eine serielle Kirchenbauproduktion der Nachkriegszeit. Überlieferte Zeichen eines Neuanfanges nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Denkmalpflege in Baden-Württemberg 34, 2005, 201-213.
    • Internetauftritt der Otto Bartning-Arbeitsgemeinschaft Kirchenbau e. v.: www.otto-bartning.de
    • Website der Heimstättensiedlung in Darmstadt: www.siedlungsnet.de
    • Homepage der Evangelischen Matthäusgemeinde Darmstadt: www.matthaeusgemeinde-darmstadt.de

     

    Wir danken allen Bildgebern für ihre freundliche Unterstützung: Die Bildnachweise werden jeweils am Bild selbst geführt.

Text: Markus Juraschek-Eckstein M. A., Bergisch Gladbach (online seit 10/2016)

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