Essen

St. Bonifatius

Anschrift Kirche
Moltkestraße 111
45138 Essen

Nach innen gehen

Als Pfarrer Hartmann auf der Baustelle einmal Kirchbaumeister Emil Steffann traf, fragte er ihn, was er denn für ein Fenster für die kleine, seitlich verschobene Öffnung in der Apsis plane. Der Architekt stieß daraufhin mit einem spitzen Gegenstand einige Löcher in ein Stück umherliegender Pappe, hielt sie gegen das Licht und sagte: „Mehr sehen wir nicht.“ Ein Fenster, das kaum Licht durchlässt? Darauf kann man doch verzichten? Aber weit gefehlt. Wie so oft bei Steffanns Bauten, erhellt sich auch der Sinn der Bonifatiuskirche erst beim Betrachten jenes unscheinbaren Details. Um es aber zu betrachten, muss man – so banal es klingt – erst in die Kirche rein. Dann erst kann der offene Sinn … Licht ins Dunkle bringen.

  • Überblick
    Ort
    Essen

    Bistum
    Bistum Essen

    Name der Kirche
    St. Bonifatius

    Weihe
    1961 (15. Juli)

    Architekten
    Emil Steffann, Karl Otto Lüfkens

    Künstler
    Helga Kühnapfel, Lioba Munz, Rudolf Peer
    Besonderheit
    Die mit Anleihen an den frühchristlichen Basilikastil erbaute Kirche fügt zwei Atrien an eine freistehende Ω-förmige Chorwand.

    Nutzung
    Pfarrkirche

    Standort / Städtebau
    Die Kirche steht innerhalb eines modernen großstädtischen Umfeldes in einer natürlichen Mulde hinter einer abschüssigen und an dieser Stelle gekrümmt verlaufenden Verkehrsstraße.

  • Beschreibung

    Grundriss

    Essen | St. Bonifatius | Grundriss

    Essen | St. Bonifatius | Grundriss

    Der Grundriss zeigt einen langestreckten rechteckigen Bau mit glatten Außenwänden. Zwischen dem ersten und zweiten Drittel des geosteten Gevierts steht frei die Chorwand. Sie hat die Gestalt eines breitschultrigen griechischen Omegas (Ω). Östlich der Chorwand schließt sich innerhalb der Umfassungsmauern ein kleines dreiseitiges Atrium („Paradies“) mit breitem Umgang an. Die Atriumsflügel öffnen sich in der Ausführungsvariante dreifach zum Innenhof. Westlich der Chorwand schließt sich ebenfalls ein Atrium an, nun mit schmalem Umgang und achtachsig.

     

    Außenbau

    Essen | St. Bonifatius | Außenbau | Foto: wiki05, gemeinfrei

    Essen | St. Bonifatius | Foto: wiki05, gemeinfrei

    Äußerlich wirkt der Backsteinbau wie eine dreischiffige Basilika. An der Zugangsseite Moltkestraße schirmen eine Immunitätsmauer und der Ostflügel des Paradieses die völlig ungegliederte Chorgiebelwand samt Apsis bis halbe Höhe ab. Lediglich ein Firststein aus Muschelkalk und ein Blech-Hahn zieren die dergestalt entrückte Chorwand. Der Umgang des Westatriums ist an den Langseiten mittels Pultdächern seitenschiffartig abgesetzt. Acht Rundbogenfenster je „Schiffwand“ sind hier die einzigen Gliederungselemente. Zwei stützenlose Portici sitzen dem Baukörper diametral gegenüber gelegen an, das kleinere, aber aufwändigere Portal (Porta principalis) nahe der Nordostecke des Paradieses. Hierdurch gelangt man in die Taufkapelle.

     

    Innenraum

    Essen | St. Bonifatius | Innenraum | Foto: Markus Juraschek-Eckstein

    Essen | St. Bonifatius | Außenbau | Foto: Markus Juraschek-Eckstein

    St. Bonifatius bietet, frühchristlichen Anlagen vergleichbar, die Möglichkeit, das Baptisterium vor dem eigentlichen Kirchinnenraum – das hieße im Extremfall: diesen erst als Getaufter – zu betreten. Räumlich wird der Gemeinderaum über den Umgang des Westatriums erreicht. Die Atriumsarkaden umstehen die gottesdienstlichen Funktionsbereiche (Altarraum, Bänke, Orgel, Sängerempore) in Art des Einraums mit offenem, bundbalkenlosem Satteldach. An die Arkadenstützen sind inwendig hohe schräge Wandpfeiler geschmiegt. Diese spätantike und barocke Form des Strebepfeilers findet sich mehrfach bei Steffann, hat aber hier keinerlei statische Funktion. Hier definiert sie die hohe Schiffwand als nach innen gesetzte Außenwand bzw. als hofseitige Fassade.

  • Liturgie und Raum
    Essen | St. Bonifatius | Altarraum | Foto: Markus Juraschek-Eckstein

    Essen | St. Bonifatius | Altarraum | Foto: Markus Juraschek-Eckstein

    Lassen sich die Chorwand in Ω-Form (Offb 1,8) und die mehrfache Drei- bzw. Achtzahl der Gliederungselemente als Verweise auf Unendlichkeit, Trinität und Vollendung lesen, so ist die Bonifatiuskirche ein komplexes Sinnbild der Entelechie, für den auf eine künftige ewige Gottesherrschaft ausgerichteten Zug des pilgernden Gottesvolkes. Atrien sind architekturgeschichtlich Verbindungsbauten zwischen Außen und Innen, im Kirchenbau zwischen Profanem und Sakralem. In St. Bonifatius wäre demnach streng genommen nur die Chorwand sakral.

    Unter dem dreifachen (!) Triumphbogen hängt das Kreuz mit Lebensbaum auf der Vorder- und Symbol der Himmelsstadt auf der Rückseite. Es ist sozusagen der Link zwischen der Gegenwartsgemeinde und den in der Apsis mittels sieben Wandleuchtern symbolisierten Gemeinden der Geheimen Offenbarung (Offb 1,10-20). Exakt die gleiche Symbolik ist der Emil Steffann wohlbekannten und richtungsweisenden Kirche Neu St. Alban in Köln (1956-58, Hans Schilling/Hugo Poth) unterlegt. Das unscheinbare Apsisfenster in St. Bonifatius wahrt nun vor dem Irrtum, das zukünftige gestaltlose Dasein Gottes „beleuchten“, also sehen zu wollen. „Das Auge will die Dinge, die es sieht, von innen her erschaffen, sie aus ihrer Undeutlichkeit selbst ins Licht erheben.“ (E. Steffann)

  • Ausstattung

    Der ursprüngliche Zelebrationsaltar stand vor der Fluchtlinie der Chorwand. Er befand sich also knapp vor der Schwelle zwischen diesseitig pilgerndem Gottesvolk und dem in der Apsis symbolisierten Gottesreich. Das vermittelnde doppelseitige Triumphkreuz von 1965 stammt wie sein Kölner Pendant in der Albanskirche von Sr. Lioba Munz OSB. In Folge der Liturgiereform wurde der Altarraum 1969-1971 neu gestaltet. Die heutige Prinzipalausstattung mit vorgezogenem Altar, Ambo und Sakramentshaus aus weißem französischem Savonnière und Bronze besorgte der Bildhauer Rudolf Peer aus Köln-Sürth.

    Der Bronzedeckel des bauzeitlichen Taufbrunnens stammt von Helga Kühnapfel. Auf ihm ist die Geschichte der Taufe des äthiopischen Kämmerers durch den Apostel Philippus (Apg 8,26-39) und damit eine auf den Hl. Bonifatius anspielende frühe Missionsgeschichte wiedergegeben. Die Huttroper Kirche ist reich an historischen Ausstattungsstücken: Eine Bonifatius-Figur des 13. Jahrhunderts, die Pietà in der Taufkapelle und eine Madonna aus dem 15. Jahrhundert sowie ein Kruzifix des 16. Jahrhunderts sind zu erwähnen. Die Orgel (1971) stammt von der Firma Walcker im Saarland.

  • Von der Idee zum Bau

    St. Bonifatius ersetzt eine von Essens Regierungsbaumeister Emil Jung im Stil des sog. Ziegel-Expressionismus an anderer Stelle erbaute Vorgängerkirche von 1928/29. Aufgabe und 1965 erfolgter Abriss der alten Bonifatiuskirche wurden mit Kapazitätsgründen gerechtfertigt. Die Planungen zum Steffann’schen Bau begannen 1958, Pfingsten 1960 war Grundsteinlegung, die Weihe durch Bischof Franz Hengsbach wurde am 15. Juli 1961 gefeiert.

    Zwei die Sakristeiräume ausscheidende Trennwände im östlichen Atrium gehören einer späteren Planungsphase an und dürften aus rein pragmatischen, nicht konzeptionellen Gründen eingefügt worden sein. Historische Vorbilder für die Doppelatrium-Anlage finden sich in den fränkisch-karolingischen Vorgängerbauten des Kölner Domes, für das Vorchor-Paradies auch in der romanischen Abteikirche Maria Laach. Die Türklinken in Hahnengestalt an der Porta Principalis und weitere Formendetails zitieren die 1955/56 von Steffann mit Siegfried Österreicher erbaute Laurentiuskirche in München-Gern.

  • Der Architekt Emil Steffann

    Armut, handwerkliche Perfektion und Sinn sind drei Axiome, innerhalb derer sich das Steffann’sche Bauschaffen bewegt. Emil Steffann (1899-1968) studierte ursprünglich Bildhauerei. Während eines Arbeitsaufenthaltes in Assisi konvertierte er 1926 zum katholischen Glauben. Beeindruckt von der franziskanischen Architektur, welche für ihn zeitlos und VOR allem Stil war, beschloss er, sich fortan ausschließlich der Architektur und speziell dem Sakralbau zu widmen. Begegnungen mit Walter Gropius und Rudolf Schwarz führten zu einem Bauen, das schlicht und überschaubar wirkt, dem aber immer eine komplexe Gesinnung innewohnt.

    Steffans Kirchen sind oft als Durchdringungen der geometrischen Grundformen Kreis, Kreuz und Quadrat konzipiert. Materialien und Formen überstrapazieren dabei einander nie und dienen gemeinsam einem Hauptsinn: Der konstruierte Raum heilige sich vollends durch das Darinsein und die Kontemplation eines konkreten Menschen oder einer Gemeinschaft! Verwinkelte und umwegige Zugänge in die Kirchen sollen als „Schwellen“ der Einstimmung der Seele auf dem „Weg nach innen“ dienen.

    Essens Dombaumeister a. D. Heinz Dohmen nannte Steffanns Essener Schöpfung St. Bonifatius eine „introvertierte Kirche“. Dies kann als Charakteristikum für das gesamte Kirchenbauschaffen Emil Steffanns gelten. Seine negative Lichtregie, bei der unterschiedlich schräg gestellte Gewände die sparsam einfallende Helligkeit oftmals zusätzlich ablenken, ist ein sublimes Pendant zur Verbergung des Heiligtums durch einen Vorhang oder eine Ikonostase. Steffanns Bauten unterscheiden sich damit tiefgreifend von annähernd gleichzeitigen Entwürfen, die eine Verschränkung von Gemeinderaum und Atrium bzw. Klosterkreuzgang suchten, so Zum Göttlichen Erlöser (1953/54, F. Schaller) und St. Joseph (1952/54, R. Schwarz, beide Köln) oder Emil Steffann selbst mit St. Maria in den Benden (1956-59, Düsseldorf).

  • Literatur (Auswahl)
    • Georg Dehio: Handbuch der Deutschen Kunstdenkmäler. Nordrhein-Westfalen I (Rheinland), bearbeitet von Claudia Euskirchen/Olaf Gisbertz/Ulrich Schäfer u. a., München/Berlin 2005, 383.
    • Heinz Dohmen: Abbild des Himmels. Tausend Jahre Kirchenbau im Bistum Essen, Mülheim an der Ruhr 1977, 124-127.
    • Heinz Dohmen/Eckhard Sons: Kirchen, Kapellen, Synagogen in Essen, Essen 1998, 35-36.
    • Tino Grisi: „Können wir noch Kirchen bauen?“/“Possiamo ancora costruire chiese?“, Emils Steffann und sein / e il suo Atelier, Regensburg, 2014, 120-126.
    • Barbara Kahle: Rheinische Kirchen des 20. Jahrhunderts. Ein Beitrag zum Kirchenbauschaffen zwischen Tradition und Moderne (Arbeitsheft 39), Brauweiler 1985, 90-91; 121.
    • Kirchenführer der Katholischen Gemeinde St. Bonifatius Essen-Huttrop, hg. von ders., Essen o. J. [vor 2013].
    • Emil Steffann, Ausstellungskatalog, Bielefeld 1980, 127.
    • Emil Steffann (1899-1968). Werk, Theorie, Wirkung, hg. von Conrad Lienhardt, Regensburg 1999, 130.
    • 1898-1998. 100 Jahre St. Bonifatius in Essen-Huttrop, hg. von der Katholischen Pfarrgemeinde St. Bonifatius in Essen-Huttrop, Essen o. J. [1998].

     

    Wir danken allen Bildgebern für ihre freundliche Unterstützung: Die Bildnachweise werden jeweils am Bild selbst geführt.

Text: Markus Juraschek-Eckstein M. A., Bergisch Gladbach (Beitrag online seit 06/2016)

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