Seligenstadt

St. Marien

Anschrift Kirche
Steinweg 25
63500 Seligenstadt

Die Quadratur des Kreises

Für einen Betonpuristen gibt es keine größere Freude als ein schnörkelloses Kunststeingrau. Andere haben lieber etwas mehr Abwechslung fürs Auge, ein wenig Farbe, ein wenig bildende Kunst. Die Seligenstädter Pfarrkirche St. Marien, der Kirchenkubus mit den abgerundeten Ecken, schafft die sprichwörtliche Quadratur des Kreises und bietet beides: Nach außen verspricht der hochgeschlossene Betonbau die ungetrübte Architekturmoderne. Doch betritt man den Kirchenraum, gibt es Farben, Bilder und künstlerische Details satt …

  • Überblick
    Ort
    Seligenstadt

    Bistum
    Bistum Mainz

    Name der Kirche
    St. Marien

    Weihe
    1975 (15. Juni)

    Architekt
    Gisberth Hülsmann

    Künstler
    Paul Brandenburg, Alois Plum, Maria Elisabeth Stapp
    Besonderheit
    St. Marien verbindet die strenge Material- und Formensprache der klassischen Moderne mit der Spiel- und Farbenfreude der aufziehenden Postmoderne.

    Nutzung
    Pfarrkirche der katholischen Gemeinde St. Marien

    Standort / Städtebau
    Zwischen Main und Bahndamm, zwischen Altstadt und Neubaugebiet markiert der hochgeschlossene Betonkubus auch ohne Turm deutlich den modernen Kirchenstandort.

  • Beschreibung

    Grundriss

    Seligenstadt | St. Marien | Grundriss

    Seligenstadt | St. Marien | Grundriss

    Nordwestlich des historischen Ortskerns von Seligenstadt, zwischen dem Main im Osten und der Bahnlinie Erbach-Hanau im Westen ist St. Marien verortet. Wo die Kapellenstraße in den Steinweg mündet, erhebt sich die Pfarrkirche auf einem annähernd quadratischen, leicht querrechteckigen Grundriss mit abgerundeten Ecken.

     

    Außenbau

    Seligenstadt | St. Marien | Foto: Karin Berkemann

    Seligenstadt | St. Marien | Foto: Karin Berkemann

    Die dreischalige Kirche – innen geschalter Ortbeton, außen Betonfertigplatten – zeigt sein Material nach außen und innen sichtbar. In leichter Hanglage errichtet, wird die Oberkirche sowohl durch einen überdachten Steg von der Kapellenstraße als auch vom Steinweg über den oberen Pfarrhof erschlossen. Zusätzlich ist die Unterkirche durch einen Nebeneingang von Südosten über den unteren Pfarrhof zu erreichen.

     

    Innenraum

    Seligenstadt | St. Marien | Foto: Karin Berkemann

    Seligenstadt | St. Marien | Foto: Karin Berkemann

    Die Oberkirche wird von Holzleimträgern überfangen, die sich fischgrätförmig leicht zum mittigen Lichtschlitz hin absenken. Den Übergang zu den Seitenwänden markiert wieder je ein „Oberlichtstreifen“. Von Südwesten nach Nordosten verlaufend, lenken diese drei Glasbänder den Blick zur Altarinsel. In der Südostecke des Kirchenraums führt eine großzügig geschwungene Rampe ins Erdgeschoss mit Werktagskapelle und Funktionsräumen. Im Ober- wie im Untergeschoss werden einzelne Raumpartien durch Lichtschlitze erhellt, die sich – ebenso wie die Zugänge und zwei vorkragende „Wasserspeier“ – nach außen betonplastisch abzeichnen und durch blaue bzw. gelbe Farbakzente hervorgehoben werden.

  • Liturgie und Raum
    Seligenstadt | St. Marien | Unterkirche mit Blick zur Taufkapelle | Foto: Karin Berkemann

    Seligenstadt | St. Marien | Unterkirche mit Blick zur Taufkapelle | Foto: Karin Berkemann

    „Hier wird bewußt eine einfache und großzügige Raumform angestrebt, die eine zwingende, einseitige Festlegung der liturgischen Ordnung vermeidet.“ So formulierte Gisberth Hülsmann 1969 in seiner Baubeschreibung das Konzept des Kirchenkubus, der sich nach außen blockhaft abweisend, nach innen überraschend einladend und weit präsentiert. Allein die nach Nordosten verweisenden Lichtschlitze in der hölzernen Dachkonstruktion geben dem stützenlosen Raum eine Ausrichtung auf das liturgische Zentrum: Die Altarinsel steht – nur um eine Stufe erhöht – frei im Raum, umfangen von drei Bankblöcken, hinterfangen von den Sedilien. Der Tabernakel ist seitlich in die Kirchenwand integriert. Wie in einer liturgischen Landschaft wird der (Gottesdienst-)Besucher eingeladen, sich die einzelnen Stationen zu „erwandern“. So setzte man z. B. den Taufbrunnen gezielt ans untere Ende, ins „Auge“ der Rampe, womit das Sakrament der Taufe als Basis der christlichen Gemeinschaft ins Licht gerückt wird und zeichenhaft die Ober- mit der Unterkirche verbindet.

  • Ausstattung
    Seligenstadt | St. Marien | Wandmalerei | Foto: Karin Berkemann

    Seligenstadt | St. Marien | Wandmalerei | Foto: Karin Berkemann

    Heute zeigt der klare Betonkubus eine überaus reiche Ausstattung, deren prägende künstlerische Elemente bis Ende der 1970er Jahre entstanden: Nach Entwürfen von Gisberth Hülsmann fertigte man Portale, Tabernakel und Taufbecken im Aluminiumguss. Seine Holzmodelle für den Altar der Ober- und der Unterkirche wurden in ihrer gekonnten Einfachheit so wertgeschätzt, dass sie direkt als Altäre in Nutzung kamen. Die Bildhauerin Maria Elisabeth Stapp (* 1908 Riedlingen, + 1995 Memmingen), die u. a. in engem Austausch mit Romano Guardini stand, schuf Mitte der 1970er Jahre das Altarkreuz. Künstlerisch wie theologisch schlägt es einen Bogen von der Kreuzigung (Johannes 3,14) des Neuen zur ehernen Schlange des Alten Testaments. Die Marienstatue von Stapp, die ursprünglich südwestlich der Altarinsel stand, wurde von der Gemeinde später auf dem oberen Pfarrhof platziert.

    Zur Bauzeit beließ man die Innenwände ungeschmückt betonsichtig, um alle Aufmerksamkeit auf die Mitte hin zu konzentrieren. Seit 1979 durchzieht das gesamte Innere, von der Ober- bis zur Unterkirche, eine figurative Wandmalerei in Gelb-, Rot- und Blautönen. Der Künstler Alois Plum (* 1935 Mainz) verarbeitete hierfür u. a. Motive des Marienlebens und der Offenbarung des Johannes. Ende der 1980er Jahre erneuerte der Bildhauer Paul Brandenburg (* 1930 Düsseldorf) einige liturgische Ausstattungsstücke: Altar, Ambo und Weihwasserbecken wurden 1987 geweiht. Nicht zuletzt ergänzte die Gemeinde 1999 im Außengelände gut sichtbar die lebensgroße Plastik „Christus aller Opfer“, die der polnische Künstler Maksymilian M. Biskupski (* 1958 Warschau) als Zeichnen der Mahnung und Hoffnung gestaltete.

  • Von der Idee zum Bau

    Als Seligenstadt nach dem Zweiten Weltkrieg sprunghaft über den historischen Ortskern hinaus wuchs, wurde 1966 die katholische Gemeinde St. Marien selbständig und erhielt Ekkehard Edel als Pfarrer: Er war zuvor als Kaplan beim Mainzer Bischof, dem späteren Kardinal, Hermann Volk tätig, den Edel auch nach Rom zum Zweiten Vatikanischen Konzil begleitete. Bereits Mitte der 1960er Jahre hatte man in Seligenstadt am heutigen Standort mit Bauarbeiten begonnen: So entstanden ein Pfarrhaus sowie eine „Kindertagesstätte mit Freizeiteinrichtung“ nach Plänen des lokalen Architekturbüros Günther Laber und Wilhelm Puth.

    Bislang feierte man die Messe provisorisch im Kindergarten, denn der Neubau der Pfarrkirche stand noch aus: Auf der Suche nach einem Architekten, der die Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils angemessen umsetzen könnte, stieß Pfarrer Edel über das Werk von Emil Steffan auf dessen damaligen Mitarbeiter Gisberth Hülsmann. Nach einem Wettbewerb – an dem u. a. kein Geringerer teilnahm als der Würzburger Dombaumeister Hans Schädel – wählte man schließlich den Entwurf von Hülsmann. Noch zur Bauzeit wurde das Patrozinium als „Mariä Verkündigung“ angegeben, heute nennt sich die Gemeinde schlicht „St. Marien“.

    Hülsmann erklärte 1969 in seiner Baubeschreibung, der hochgeschlossene Kirchenkubus werde in „einem wohltuendem Kontrast zu der kleinteiligen Umgebung“ stehen. In der neuen Pfarrkirche wurde 1972 der erste Gottesdienst und 1975 die Weihe gefeiert. Den südlich davon angedachten, zweiten Bauabschnitt des Pfarrzentrums verwirklichte man nicht mehr, stattdessen wurden die übrigen Gemeindebauten mehrfach um- und ausgestaltet. Im Dezember 2002 verortete der „Förderkreis historisches Seligenstadt“ in der Unterkirche einen Sarkophag für Graf Drogo (+ 754) – und verknüpfte damit die nachkriegsmoderne Pfarrkirche St. Marien mit der mittelalterlichen Stadtgeschichte, der verlorenen Stadtpfarrkirche „Unsere Liebe Frau“, deren Vorläufer Drogo gestiftet und erbaut haben soll.

  • Der Architekt Gisberth Hülsmann

    Der Architekt Gisberth M. Hülsmann (* 1935 Hamersleben) schloss sein Studium in Karlsruhe 1955 mit dem Diplom bei Egon Eiermann ab. Bereits während seiner Ausbildung hatte Hülsmann im Büro von Emil Steffann (* 1899 Bethel, + 1968 Bonn) gearbeitet, um mit ihm in der Folge als Partner verschiedene Projekte umsetzen zu können: darunter das Kartäuserkloster Marienau in Seibranz (1964) und das Franziskanerkloster/die Pfarrkirche St. Matthias in Euskirchen (1964). Nach Steffanns Tod 1968 war Hülsmann mit eigenem Büro in (Bonn-)Bad Godesberg tätig und setzte seinen Schwerpunkt fort: Neubau und Sanierung kirchlicher Objekte – seit den 1980er Jahren ergänzt um Wettbewerbserfolge im Städtebau.

    Für Seligenstadt, einem frühen Werk seiner Selbständigkeit, verband Hülsmann die strenge Materialsprache Steffanns mit den plastischen Möglichkeiten des Baustoffs Beton. Als Vorbild für St. Marien gibt er rückblickend die von Steffann entworfene, von Hülsmann 1970 vollendete St. Walburga-Kirche in Porta Westfalica an, deren (hier natursteinverkleideter) Baukörper ebenfalls einen fast quadratischen Grundriss mit abgerundeten Ecken zeigt. Wie in vielen seiner späteren Projekte – von St. Marien in Gütersloh (1974) bis zu St. Elisabeth in Gera (2003, mit Elmar Sommer) – überfing Hülsmann in Seligenstadt einen weiten zentralisierenden Gottesdienstraum mit einer offenen hölzernen Deckenkonstruktion. Neben seiner architektonischen Tätigkeit entwarf er auch die Glasgestaltung für Kirchen. Hülsmann war 1992 auf der Architektur-Biennale in Venedig vertreten. Er lehrte u. a. an der Fachhochschule Aachen (1981 bis 2000) und an der Fachhochschule Anhalt in Dessau (1992/93).

  • Literatur (Auswahl)
    • Karin Berkemann: 1975 Seligenstadt, St. Marien, in: Birgit Kita/Andreas Poschmann (Hg.), AUF EWIG. Moderne Kirchen im Bistum Mainz, Regensburg 2016, 94-117.
    • Eine Führung durch St. Walburga. Porta Westfalica, hg. von der Katholischen Pfarrgemeinde St. Walburga, Porta Westfalica 2012 (zuletzt abgerufen 20220128).
    • Gisberth Hülsmann (Bearb.): Emil Steffann, Katalog, Kunsthalle Bielefeld, 16. November bis 30. Dezember 1980, Bielefeld 1980.
    • Doris Lehmann (Bearb.): Ecce homo. „Christus aller Opfer“. Skulptur aus Bronze und Stahl von Maksymilian Biskupski, hg. vom Kunstforum Seligenstadt, Seligenstadt o. J. [1999].
    • Anne-Madeleine Plum (Hg.): Glauben im Licht der Offenbarung. Das Große Glaubensbekenntnis ausgelegt in Wort und Bildnis, München 2010.
    • Robert Schnabel u. a. (Bearb.): 1966–2016. 50 Jahre St. Marien Seligenstadt, hg. von Holger Allmenroeder für die Katholische Kirchengemeinde St. Mariae Verkündigung Seli-genstadt, Seligenstadt 2016.
    • Dagmar Söder (Bearb.): Kreis Offenbach (Kulturdenkmäler in Hessen; Denkmaltopographie Bundesrepublik Deutschland), hrsg. von Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Braunschweig/Wiesbaden 1987.

     

    Wir danken allen Bildgebern für ihre freundliche Unterstützung: Die Bildnachweise werden jeweils am Bild selbst geführt.

Text: Dr. Karin Berkemann, Frankfurt am Main/Greifswald (Beitrag online seit 10/2015)

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